not just rehearsals.

Ein Probensonntag bei den Dramatischen Gestalten, verfasst durch Max Christis:

Im spätmorgendlichen Dunst der Hauptstraße Unterschleißheims erstreckt sich vor uns das Gelände des Carl-Orff-Gymnasiums, wo wir gemeinsam die nächsten acht Stunden zubringen werden. Während ich meinen Rucksack aus dem Auto unserer Regisseurin Alex klaube, die Maggie und mich auf dem Weg zur Probe eingesammelt hat, trudeln die anderen nach und nach zu Fuß und auf dem Fahrrad ein. Wir begrüßen alle und warten gemeinsam vor dem Haupteingang auf Merlin, den Mann mit dem Schlüssel.

Einige der Anwesenden, mich einbezogen, schauen noch recht verschlafen in die Gegend – das liegt vorrangig an der gemütlichen House-Party, die Alex am Vorabend veranstaltet hat. Die Müdigkeit wird jedoch spätestens verflogen sein, wenn die Probe beginnt. Um Punkt elf Uhr kommt Merlin angeradelt und gewährt uns Einlass in das Schulgebäude. Wir quartieren uns im Atrium ein, wo ein eingegrenzter Bereich des Bodens uns als Probebühne dient. Zwei verwegene Zuspätkommer stoßen noch zu uns – die kritischen sieben Minuten, nach denen ein Kuchen fällig wird, schaffen sie aber noch. Da ich selbst noch eine Kuchenschuld zu begleichen habe, zaubere ich ein Blech mit selbstgemachtem Bananenbrot hervor, von dem bereits ein Stück fehlt (Qualitätskontrolle). Dann geht es auch schon los mit der Probe.

Max in perfekter Tarnung in seinem Schauspielerhabitat

Um uns aufzuwärmen, bewegen wir uns zunächst zu erbaulichen Beats in verschiedensten Gangarten durch den Raum. Es gibt Tage, an denen ich meine Konzentration erst einmal suchen muss, aber heute bin ich vom ersten Schritt an im Fluss. Nach den Gangübungen ist die Stimme mit dem Aufwärmen dran. Wir aktivieren unsere Bauchatmung, indem wir in einem Atemzug so oft wie möglich das Wort „Apotheke“ mit wechselnden Anfangsbuchstaben sagen. Meine Zunge verknotet sich schon beim zweiten Durchlauf, aber die Übung funktioniert trotzdem. Es folgen ein paar Konsonantenübungen, dann testen wir unsere Lautstärke. Wir gehen durch den Raum und rezitieren möglichst gut hörbar Passagen aus unserem Stück. Da ich normalerweise sehr leise spreche, muss ich mich richtig anstrengen, um inmitten des Stimmengewirrs noch gehört zu werden. Eine wichtige Erfahrung für die Bühne.

Die Textübung bringt uns nahtlos zum nächsten Teil der Probe – der Arbeit an „not just sad.“. Das Stück von Sarah Kane, das einfühlsam von ihrer schweren Depression erzählt und von Alex um ihre eigenen Erfahrungen mit der Krankheit erweitert wurde, ist mir inzwischen sehr ans Herz gewachsen. Heute steigen wir mit einer Choreo für das letzte Viertel des Stücks ein. Als Alex uns die dreißig Sekunden vortanzt, bin ich mir sicher, dass ich mir diese ganzen Schritte niemals werde merken können. Da unterschätze ich allerdings das menschliche Bewegungsgedächtnis. Nach und nach üben wir die Positionen ein, bis sie irgendwann wie von selbst ineinander übergehen. Es macht Spaß, sich so kontrolliert und gleichzeitig ausdrucksstark zu bewegen. Sobald alle die Schritte verinnerlicht haben, lassen wir die Choreo erst einmal einsinken und widmen uns der Entwicklung der Folgeszene – basierend auf einem Text, den Alex in ihrer eigenen Depression verfasst hat. Zwei Seiten Fließtext sollen mit Bildern untermalt werden, die Hälfte haben wir schon geschafft. Zuhause habe ich darüber nachgedacht, wie es weitergehen kann, aber wirklich gute Ideen sind mir nicht gekommen. Einigen anderen glücklicherweise schon, und so machen wir einfach dort weiter, wo wir aufgehört haben. Wir probieren viel aus, bilden Schwärme und „Klompis“, tragen uns gegenseitig über die Bühne, stellen uns in Reihen und Tunneln auf, bis schließlich ein starkes Bild dabei herauskommt und wir zum nächsten Abschnitt übergehen können. Es ist aufregend, so ganz ohne Vorgaben das Stück weiterzuentwickeln, aber auch anstrengend. Bis zwei Uhr betreiben wir dieses Ganzkörper-Brainstorming, dann ist es Zeit für die Mittagspause. Ihr heimliches Highlight ist der Flügel im Musikraum der Schule – gerade für einen Studenten, bei dem ein solches Instrument nicht einmal ins Zimmer passen würde. Heute schwingt sich Merlin für eine spontane Jam-Session ans Schlagzeug; etwas später schaut auch Jonathan herein und trägt auf einem kleinen Xylophon zur Kakophonie bei. Die anderen lassen sich von derartigen Beschäftigungen glücklicherweise nicht stören. Nachdem wir uns ausgetobt haben, geht es mit neuer Frische zurück in die Probe.

Dort erwartet uns eine eher unliebsame Aufgabe – der Technical Run, bei dem zum ersten Mal alle Szenen hintereinander überflogen werden, um für alle Beteiligten die richtigen Positionen während der Übergänge zu finden. Zum Glück spielen wir „not just sad.“ größtenteils ohne Requisiten, sodass wir uns immerhin um die kaum Gedanken machen müssen. An unserer Seite sind nun auch Berti und Andrea, die zwar beim aktuellen Projekt nicht mitmachen, sich aber trotzdem die Zeit genommen haben, um zur Probe vorbeizuschauen. Sie bekommen bequeme VIP-Plätze vor der Bühne und schauen sich an, was wir bisher erarbeitet haben. Nach etwa zwei Stunden sind alle Übergänge im Kasten und wir legen eine Pause ein. Ich merke, wie meine Konzentration allmählich nachlässt – kein Wunder nach inzwischen sechs Stunden Theater. Eine halbe geht aber noch. Wir vervollständigen die Szene, um die wir uns vor der Mittagspause schon gekümmert haben, dann ist die Probe vorbei. Nach dem Aufräumen und einer kurzen Feedback-Runde folgt der schwierigste Teil: Abschied nehmen und in den eigenen Alltag zurückkehren. Das Carl-Orff-Gymnasium, über dem mittlerweile der Mond aufgegangen ist, verschwindet im Rückspiegel von Alex‘ Auto und wenig später rauschen wir auch schon wieder über Münchner Straßen. Erst, als ich in meinem Zimmer stehe, merke ich, wie schnell der Tag verflogen ist. Der Probensonntag ist mein „odd one out“ in einer Woche, die größtenteils aus Vorlesungen und Rechnen besteht. Es tut gut, mit den Dramatischen Gestalten einfach mal etwas ganz anderes zu machen und in einem geschützten Raum meinen persönlichen Horizont zu erweitern. Darum freue ich mich auch jetzt schon wieder auf die nächste Probe.

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homo connectus: Ein dystopisch-satirischer Thriller.